
Ich habe eine magere Landschaft betreten.
Alles was singt, sammelt sich zu meinen Füßen wie Fahnen
in der Neige der Zeit.
Hier ist die Welt ein temporärer Ort aus Chorälen.
Er ist die Behausung der eingelagerten Wasserzeichen
und des Schiffsschlamms, der Brotkrümel voller Wetterleuchten.
Er ist ein Kräutergarten aus Klagegesang, die Jahreszeit
des Lehms, der aus dem Ozean kommt.
Er ist die Frucht eines Meeres im Stillstand unter der hoffnungslosen
Kolonnade des Hungers.
Er ist ein brackig-grüner Glassturz, unter dem sich das Feuer quält,
der Boden, auf dem ein unbekanntes Volk eine Nelke konserviert.
Er ist die bebende Tinte des Tages, die glühende Rose, die sich
einschreibt in die Chroniken des Urwalds.
He entrado a región delgada.
Todo lo que canta se reúne a mis pies como banderas que el
tiempo inclina.
Aquí el mundo es una estación amanecida sobre corales.
Ésta es la morada donde se depositan los signos de las aguas,
el légamo de los navíos, los mendrugos cargados de relámpagos.
Éste es el huerto de las especias clamorosas, la temporada de
arcilla que el océano erige.
Ésta es la fruta de un piélago muerto, la columna desesperada
del hambre.
Ésta es la salobre campana de verdor que el fuego crucifica, la
tierra donde una tribu oscura embalsama un clavel.
Ésta es la tinta trémula del día, la rosa al rojo vivo inscrita en
los anales de la selva.
(Los cuadernos del destierro, 1960)
*
Weltgeschichte
Ich öffne das Fenster und sehe eine Armee ihre Opfer einsammeln.
Gespenster tragen Gespenster in ihren Armen, und wohin ich auch gehe,
tun sich Mäuler auf. Die Armseligkeit ihrer Kleider ist nichts im Vergleich
zu der ihrer Augen und dem eitrigen Heldenmut, was lässt sich da sagen? Von
der Sonne durchschienene Leiber in geisterhaften Hemden. Falls ich’s vergesse,
aber ich kann’s nicht, sie sammeln die Opfer ein – sie fangen gerade erst an – und
kein Ende in Sicht, es dauert an bis in die Nacht und die nächste Nacht und bis morgen
und übermorgen und so weiter und so fort. Innerhalb von fünf, neun, fünfzig, zweihundert
Jahren werde ich das Fenster noch einmal öffnen, und die Szenerie wird
unverändert sein.
Die Gespenster werden sich eins zu eins gleichen, aber nichts wird anders sein, es wird keine Änderungen geben, keine Last-Minute-Korrektur.
Historia
Abro la ventana y veo un ejército que recoge sus víctimas.
Espectros que llevan en sus brazos espectros, y adonde camino
descubro bocas. La penuria de sus trajes no es nada frente a
las de sus ojos, y al pus del heroísmo, ¿qué decir de todo eso?
Cuerpos transparentes al sol, con tejidos de fantasmas. Si olvido, aún
sé que siguen recogiendo víctimas –apenas comienzan– y no hay
fin, durará hasta la noche y todas las noches y mañana y pasado
mañana y después y siempre. Dentro de cinco, nueve, cincuenta,
doscientos años abriré nuevamente la ventana y la escena no habrá variado.
Los espectros serán los mismos otros, pero ella no se
alterará, no habrá modificación, una corrección de última hora.
(Memorial, 1977)
*
Quellen / Fuentes:
Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck. Gedichte. Aus dem venezolanischen Spanisch von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff. parasitenpresse, Köln, 2018.
Rafael Cadenas: Obra entera (1958-1995). Introducción Darío Jaramillo Agudelo. Editorial Pre-Textos, España, 2007.
Rafael Cadenas, geboren 1930 in Barquisimeto, ist Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er lebt als emeritierter Professor der Universidad Central de Venezuela in Caracas. Als Kommunist trat Cadenas der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez (1952-1958) entgegen und war gezwungen, für einige Jahre nach Trinidad und Tobago ins Exil zu gehen. Ab 1958, nach der Rückkehr nach Venezuela, widmete er sich der Literatur. Er studierte Philosophie und Literatur, übersetzte u. a. D. H. Lawrence, Tadeusz Rózewicz, Walt Whitman, Konstantin Kavafis, Victor Segalen und Fernando Pessoa ins Spanische. Veröffentlichungen: Obra entera. Poesía y prosa 1958-1995 (2007); Sobre abierto (2012) oder En torno a Basho y otros asuntos (2016). Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise, u. a. den Premio Nacional de Literatura de Venezuela (1985), den Premio FIL de Literatura en Lenguas Romances (Mexiko 2009), den XII. Premio Internacional de Literatura Federico García Lorca (Granada 2015) und zuletzt den Premio XXVII Reina Sofía de Poesía Iberoamericana (Madrid 2018).
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